Abschied von der Verfassung



David Dürr - eigentümlich frei März 2020 

Das deutsche Grundgesetz als Provisorium auf Ewigkeit

Das deutsche Grundgesetz von 1949 heisst nüchtern «Grundgesetz» und nicht feierlich «Verfassung», weil es eben keine Verfassung ist. Es ist so etwas wie eine provisorische, damals von den Siegermächten einstweilig verordnete Staatsordnung, die man bei Gelegenheit durch eine eigentliche, vom Volk selbst in einer landesweiten Abstimmung erlassene Verfassung ablösen sollte. So lautete denn der 146. und letzte Artikel des Grundgesetzes: 

«Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft
tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.»

Das ist inzwischen mehr als 70 Jahre her und das deutsche Volk wartet noch immer darauf, sich selbst «in freier Entscheidung» eine eigene Verfassung zu geben. Und es sieht nicht danach aus, dass dies absehbar geschehen wird. Erstaunlich ist dies allerdings nicht; Verfassungen wurden schon immer in Aussicht genommen, herbeigesehnt oder versprochen, wirklich umgesetzt wurden sie aber noch nie. So jedenfalls solche Verfassungen, die aus dem Volk heraus, sozusagen aus Graswurzeln, Bottom up oder eben «vom Volke in freier Entscheidung» artikuliert wurden. Das war schon so bei den «zwölf Artikeln» der Bauernbewegung von 1525, die im Blut ihrer Wortführer ertränkt wurden; bei der französischen Menschenrechtserklärung von 1789, die im staatlichen Terror endete; bei der Paulskirchenverfassung von 1849, die schon bald von der Bismarckschen Reichsordnung ablöst wurde; bei der Weimarer Verfassung von 1919, die nach wenigen Jahren dem Vollmachtregime Hitlers weichen musste; und so nun auch beim Verfassungsversprechen von 1949, das zwar nicht in Blut getränkt wurde, aber trotzdem abhandenkam. Es wurde nämlich vor dreissig Jahren, im Zuge der Wiedervereinigung 1990, mit eleganter juristischer Wortakrobatik bachab geschickt. Als man das Grundgesetz an die neue Situation anpasste, das heisst die östlichen Bundesländer ihm ebenfalls unterstellte, hiess der 146. Artikel nun plötzlich so:

«Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das
gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in
Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.»

Das heisst, es war zwar noch immer von einer künftigen, „in freier Entscheidung beschlossenen» Verfassung die Rede, doch war die «Vollendung der Freiheit» nun plötzlich bereits für dieses heutige Grundgesetz erfüllt. Das heisst, die staatlichen Redaktoren taten so, wie wenn das Grundgesetz vom Volk selbst in einer landesweiten Abstimmung erlassen worden wäre; und damit klang es nun plötzlich nicht mehr nach einem Provisorium, sondern nach einer definitiven Verfassung. Dies gelang rein sprachlich mit einem einfachen Trick, indem man den wegen der Wiedervereinigung eingefügten Passus «… nach Vollendung der Einheit …» beiläufig um die drei Wörtlein «… und der Freiheit…» ergänzte, so wie wenn mit der Einheit automatisch auch die Freiheit eingezogen wäre. Das war sie aber nicht. Denn eine Volksabstimmung fand auch 1990 nicht statt, so wenig wie schon 1949; und vor allem bedeutet Einheit in der real gelebten Politik das genaue Gegenteil von Freiheit; je umfassender und machtvoller der Staat, desto geringer die Freiheit der Bürger.

Wie frei war doch Deutschland, als es noch aus vielen, weitgehend eigenständigen Landgrafschaften, Stadtrepubliken, Hansestädten, Fürstentümern, Herzogtümern und Königreichen bestand!


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