Bürgerlicher Anarchismus – was ist das eigentlich?
David Dürr - eigentümlich frei 01.07.2017
Was Chaos, Gewalt, Revolution und Linkssein mit Anarchie zu tun haben
Bürgerlicher Anarchismus – so ja die Rubrik dieser Kolumne – sei ein Widerspruch in sich, hat mir kürzlich ein Leser vorgehalten. Anarchisten seien doch chaotisch, gewalttätig, revolutionär und links, während Bürgerliche ordnungsliebend, friedlich, angepasst und eben „bürgerlich“ seien. Ich habe dies dann Punkt für Punkt beantwortet, und zwar so:
Dass Chaos für Anarchie typisch sei, ist ein verbreiteter Irrtum. Oft meint man, An-Archie sei das griechische Wort für Un-Ordnung. Das stimmt aber nicht: Der Wortstamm „Arch“ steht für Anfang, zuerst, first, im übertragenen Sinn auch Fürst, oberst, in dieser Bedeutung etwa nachklingend beim „Erz“-Herzog oder „Erz“-Bischof. An-Archie heisst somit: Ohne oberste Instanz, ohne monopolistische Machtzentrale. Die verbreitete Assoziation mit Unordnung liegt also nicht im Begriff, sondern in der fälschlichen Gleichstellung von Macht und Ordnung beziehungsweise von Machtvakuum und Unordnung; und damit in der Suggestion, Strukturen ohne Machtzentrale seien als Gesellschaftsordnung untauglich. Die Geschichte zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist, wenn man an die endemischen Gewaltexzesse denkt, die das Modell mit Archie, nämlich der Staat, schon angerichtet hat mit Weltkriegen und industriellen Massentötungsprogrammen.
Also ist Gewalttätigkeit vor allem für Modelle mit Archie typisch. Monopolisierte Macht und Gewalt führen zwingend dazu, missbraucht zu werden. Bei An-Archie ist zwar auch nicht garantiert, dass alles immer friedlich abläuft. Aber solange Gewaltanwendung rein der Abwehr illegitimer Gewalt dient, darf sich Anarchie ihrer durchaus bedienen. Wer etwa seitens des Staates mit Gewalt bedroht oder gar physisch konfrontiert wird für den Fall, dass er seine Steuern nicht entrichtet oder seinen Militärdienst nicht leistet oder seine Schulpflicht nicht erfüllt oder seine Drogen konsumiert, ist nicht zu tadeln, wenn er sich seinerseits mit Gewalt zur Wehr setzt. Eine ganz andere Frage mag sein, ob sich dies angesichts der tödlichen Übermacht des Gegners empfiehlt.
Mit Revolution hat Anarchismus sehr wohl zu tun, doch spricht dies nicht gegen Bürgerlichkeit. Ein konsequent bürgerliches Bottom-up-Modell, das auf einer gewissen Eigenständigkeit des einzelnen Bürgers aufbaut, birgt durchaus revolutionäres Potenzial. Dann nämlich, wenn sich die Macht bei einer Obrigkeit konzentriert, die ein Top-down-Modell verfolgt, wie das beim Staat ganz offensichtlich der Fall ist. Hier stünde es Bürgerlichen gut an, nicht einfach angepasst und zaghaft einer gewissen Freiheitlichkeit der Top-down-Struktur das Wort zu reden, sondern diese grundsätzlich umzudrehen oder eben im Sinn des Wortes zu „re-volutionieren“.
Und schliesslich: Linke, die sich Anarchisten nannten, gab und gibt es durchaus. Vor allem im 19. Jahrhundert schafften es einige von ihnen zu anhaltender Prominenz, etwa der Franzose Pierre-Joseph Proudhon oder der Russe Michail Bakunin. Sie wollten das Schicksal der Arbeiter verbessern, weshalb noch heute der Irrtum herumgeistert, Anarchie habe etwas mit links zu tun. Der wahre Gegner jener Anarchisten war allemal der gewaltbewehrte Staat; und soweit er auf streikende Arbeiter einprügelte, waren seine anarchistischen Gegner halt links; soweit er kriegerisch ganze Völker dezimierte und Volkswirtschaften ruinierte, waren seine anarchistischen Gegner pazifistisch; und soweit er nun mit perfektionierten Überwachungs-, Kontroll-, Besteuerungs- und Regulierungssystemen am Ausschalten der letzten bürgerlichen Freiräume arbeitet, sind seine anarchistischen Gegner eben bürgerlich.