In der Falle des Rechtsstaats

David Dürr - eigentümlich frei 01.05.2018


Bis das Opfer hineintappt, bleibt er unauffällig und freundlich

Die spanische Zentralregierung habe ihn in eine regelrechte Falle gelockt, meinte kürzlich Carles Pu­igdemont, der gejagte katalanische Regionalpräsident, damals noch auf freiem Fuss in Belgien. Denn als er nach dem Sezessionsplebiszit im letzten Herbst daran ging, im katalani­schen Parlament die Unabhängigkeit seines Gliedstaates zu erklären, habe Madrid so getan, wie wenn es ehrlich verhan­deln wolle. Also wartete er mit der Unabhängigkeitserklärung noch zu, um dann aber bald festzu­stellen, dass die Zentralregierung ihre Verhandlungsbereitschaft nur vorgegaukelt hatte und ihn stattdessen nun plötzlich zur Verhaftung ausschrieb.

Dann sagte Carles Puigdemont noch etwas Interessantes: Ein solches Verhalten passe nicht zu einem Rechtsstaat! Interessant ist dies deshalb, weil die Empörung Puigdemonts über die Hinterhältigkeit der Zentral­regierung zwar verständlich ist; schliesslich er­wartet man von einem demokratischen Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts ein faires und transparentes Verhalten. Doch anderseits ist eben diese Erwartung falsch: Das Stellen von Fallen ist für den sogenannten Rechtsstaat typisch; genau besehen ist er nichts anderes als eine grosse, verfassungsmässig institutionalisierte Falle.

Denn Fallen zeichnen sich dadurch aus, dass das Opfer ahnungslos in sie hineingerät und sich dessen erst gewahr wird, wenn es wieder hinauswill und dies dann nicht mehr geht. Der Fallen­steller verhält sich entsprechend: Bis das Opfer in die Falle tappt, bleibt er unauffällig und freundlich. Steckt das Opfer aber einmal drin und versucht nun verzweifelt auszubrechen, so prügelt der Fallensteller auf es ein, macht die Falle zum definitiven Gefängnis oder schlägt, wenn es sein muss, sein Opfer tot.

Das entspricht ziemlich genau der Geschichte des Rechtsstaats, der zunächst sehr angenehm daher­kam: Anders als bei der absolutistischen Monarchie mit willkürlichen Ein­griffen auf die Untertanen sollte die Obrigkeit nun selbst dem Recht unterstehen. Oder wie es ein schottischer Auf­klärer formu­lierte: Statt Rex-Lex (zuerst der König, erst danach das Recht) sollte nun umgekehrt die Devise Lex-Rex treten. Um dem Nachdruck zu verleihen, wurde im 17. Jahrhundert einem englischen und im 18. Jahrhundert einem französischen König der Kopf abgeschnitten.

Das war – bewusst oder unbewusst – Symbol für eine Gesellschaftsordnung, bei der zuoberst nicht ein Kopf, sondern das Recht steht, dem alle unterworfen sind, nicht nur Kleine, sondern auch Grosse, nicht nur Schwache, sondern auch Starke, nicht nur Private, sondern auch der Staat. Emanuel Kant unterlegte dies noch philosophisch mit dem Forderung nach Rechtsnormen, die ihre Geltung nicht einem Herrscher, sondern ihrer in­haltli­chen Allgemeinheit verdanken; Geltung könne nur beanspruchen, was für alle gleicher­massen gelte.

Der Obrigkeit passte das natürlich nicht, doch blieb ihr nichts anderes übrig, als wenigstens so zu tun, wie wenn sie sich dem Recht unterstellte. Und dazu diente nun der sogenannte „Rechtsstaat“, dem die Leute begeistert zuströmten, nicht ahnend, in welche Falle sie gerieten. Denn das Recht, von dem sie sich die Kontrolle der Obrigkeit versprachen, wurde von niemand anderem als von eben dieser selbst geschaffen. Kein Wunder inszenierte diese schon bald nicht weniger als zwei weltweite Kriege, industrielle Vernichtungslager, Folterkeller und hinterhältige Staatszentralen, die vor allem etwas gar nicht schät­zen, nämlich wenn Leute oder ganze Teilgebiete aus der Falle dieses Unrechtsstaates ausbrechen wollen – wie beispiels­weise Puigdemont beziehungsweise Katalonien. 

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