Die Staats-Oper und ihre alternativen Fakten

David Dürr - eigentümlich frei 01.04.2017



Von wegen Wahrheit à la Orwell

Ein Begriff geht um die Welt, „Alternative Fakten“, seit jener Rechthaberei zwischen einem Journalisten und der Sprecherin des neuen US-Präsidenten über die weltbewegende Frage, wie viele Leute denn nun zur Inaugurationsfeier auf der grossen National Mall vor dem Kapitol in Washington zusammengeströmt seien. Weshalb bloss macht der flapsige Begriff derart Furore, als Lachnummer in den Social Media oder als Empörungsnummer von wegen staatlich produzierter Wahrheit à la Orwell’s Neusprech anno 1984?

Ja, es gibt Gründe für dieses Furore. Allerdings liegen sie nicht so sehr in der Person des neuen Präsidenten, sondern in der Fundamentalsymbolik dieser Staats-Oper, die da alle vier Jahre vor der pompösen Kapitol-Kulisse aufgeführt wird. Gespielt wird immer das gleiche Stück mit dem Titel „Democracy“, mit einem Superstar und einigen Einzelrollen hoch oben auf der steilen Treppenbühne, und mit unzählig vielen Statisten unten auf dem grossen Platz (die zu zählen dann eben so schwierig ist). Jedenfalls sind all diese Unzähligen nicht einfach Zuschauer, sondern mitwirkende Schauspieler. Sie spielen die Rolle des Staatsvolks. Gemäss dem Libretto ist dies der sogenannte demokratische Souverän, der über allen anderen im Staat stehe, selbst über dem so mächtigen Präsidenten. Dieses Staatsvolk bestimme, wer regiert. Es werde nicht beherrscht, sondern herrsche. Deshalb ja der Titel „Democracy“ oder auf Deutsch „Volksherrschaft“.

Doch all diese schönen Opernphantasien – wir kommen zu unserem Thema – sind leider nichts als alternative Fakten.

Die wirklichen Fakten sehen genau umgekehrt aus: Die unzähligen Mitglieder dieses sogenannten Staatsvolks sind überhaupt nicht zuoberst, sondern zuunterst; sie herrschen nicht, sondern werden beherrscht; sie sagen nicht, wo’s lang geht, sondern bekommen jede Menge an Vorschriften, Verboten, Bewilligungspflichten, Einschränkungen befohlen. Und zwar nicht von Leuten, denen sie die Macht dazu gegeben hätten. Der neuste Präsident beispielsweise wurde von gerade mal 19,5 % der Landesbevölkerung gewählt. Dass er aber von den anderen 80,5 % so etwas wie eine Vollmacht zur Herrschaft auch über sie bekommen habe, ist schlicht – ein alternatives Faktum.

Dies wiederum erklärt, weshalb es solch anmassenden Machtmenschen wie Trump oder Obama derart wichtig ist, wieviel Sta(a)tisten bei dieser Operngala auftreten. Denn ist die riesige Vorbühne der National Mall komplett von jubelndem Volk gefüllt, so sieht das aus, als wäre das ganze Land damit einverstanden, dass der Superstar dort oben auf der Bühne sie während der nächsten vier Jahre knechten darf. Bei Trump, sagen jetzt seine Gegner, soll die National Mall eher dürftig gefüllt gewesen sein, weit unter einer Million Leute seien da gewesen, ganz im Unterscheid zu damals bei Obama mit gegen zwei Millionen. Doch was soll die Kontroverse über eine oder zwei Millionen bei einer Landesbevölkerung von mehr als 320 Millionen. Auch wenn Obama auf der Opernbühne der National Mall etwas besser dastand, mehr als 20,5 % des wirklichen Staatsvolks haben auch ihn nicht gewählt. Woher also sein Recht, während Jahren auch die anderen 79,5 % seiner Herrschaft zu unterwerfen? Die Behauptung jedenfalls, er sei auch von diesen demokratisch legitimiert worden, ist doch schlicht – ein alternatives Faktum.

In Deutschland wird demnächst ebenfalls gewählt. Etwas steht schon heute fest. Auch hier werden die gewählten Opernstars nichts anderes vorsingen – als alternative Fakten. 

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