Gottesstaat Ticino

David Dürr - Basler Zeitung 27.09.2013


Gemäss Artikel 56 der iranischen Verfassung liegt die oberste Regierungsgewalt bei Allah. Der ist nicht einfach Gott, an den die meisten Iraner glauben, sondern Staatsoberhaupt, wie das in England die Königin, in den USA Barak Obama und bei uns zurzeit gerade Ueli Maurer sind. Der Iran hat zwar ebenfalls einen Menschenpräsidenten und zudem ein Kabinett, ein Parlament, einen Wächterrat, Justizinstanzen und viele andere ziemlich komplizierte Gremien. Doch verstehen sich diese alle bloss als Stellvertreter Allahs auf Erden. Sogar das Volk, das einige dieser Gremien wählt, ist nicht souverän, sondern leitet seine politischen Rechte von Allah ab.

Entworfen hat diese Verfassung Ajatollah Chomeini, der die Revolution von 1979 gegen Shah Reza Pahlevi angeführt hatte. Sein Einwand gegen diesen ging im Kern dahin, es stehe keinem Menschen das Recht zu, anderen Menschen Vorschriften zu machen. Einzig Gott, der Allmächtige, habe ein solches Recht. Also weg mit dem Shah und seinem weltlichen Regime! – Das mag ja für Gottesgläubige eine gewisse Logik haben. Das Problem ist nur, dass diese göttlichen Vorschriften dann doch wieder von Menschen stammen, bloss dass sich diese als irgendwie erleuchtete Stellvertreter Gottes aufspielen.

Da kann dann jeder Unsinn in solchen Gesetzen stehen, sie gelten trotzdem. Was sie vorschreiben, ist nicht primär ein rechtmässiges Verhalten zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, sondern blinder, möglichst buchstabengetreuer Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz. Kein Wunder, grassieren in einem Gottesstaat wie dem Iran abstruseste Gesetzesinhalte. Behauptet irgendein Staatsgremium, der Allmächtige wolle nicht, dass man Schweinefleisch esse oder Alkohol trinke oder dass Frauen unverschleiert herumspazieren, so werden solche Verbote in ein Gesetz geschrieben, das notfalls mit polizeilichem Zwang durchgesetzt wird. Um dies gleich klarzustellen: Abstrus sind nicht der Fleischverzicht oder die Alkoholabstinenz oder die Verschleierung – dafür mag es gute Gründe geben – sondern dass man solches ins staatliche Gesetz schreibt. Und dies erst noch mit der höchst spekulativen Behauptung, es sei gottgewollt. Ess-, Trink- oder Kleidergewohnheiten mögen ausgefallen, fremd oder unüblich sein, den Staat gehen sie jedenfalls nichts an – es sei denn eben den Gottesstaat.

Der Kanton Tessin ist auch ein solcher Gottesstaat. Seit der Abstimmung vom letzten Sonntag gelten dort staatliche Kleidervorschriften, und dies auf höchster Gesetzesstufe: Artikel 9a der Kantonsverfassung verbietet es ausdrücklich, in der Öffentlichkeit das Gesicht zu verschleiern. Und dies – so behauptet Ajatollah Ghiringhelli – weil der Allmächtige das so wolle. Im Gegensatz zum Iran heisst der tessinische Allmächtige zwar nicht Allah, sondern „popolo“. Spekulativ und anmassend ist die Berufung auf ihn aber genau gleich. Denn alles, was man von diesem angeblich allmächtigen „Volk“ weiss, ist dass 18% davon etwas gegen Gesichtsverschleierungen haben. Warum dies auch für die anderen 82% verbindlich sein soll, erschliesst sich wahrscheinlich nur Erleuchteten. 

Zurück zu den Medien