Der Staat und „sein“ Boden
David Dürr - Basler Zeitung 25.02.2016
Neu ist sie nun wirklich nicht, diese „Neue Bodeninitiative“. Im Gegenteil, total veraltet, rückwärtsgerichtet, ja schlicht reaktionär. So reaktionär wie jene ewig gestrigen Kräfte, die nach der Befreiung der grundherrschaftlichen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts immer wieder versucht haben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sie trauerten der blaublütigen Obrigkeit nach, die für das Glück der Untertanen doch so viel besser sorge als diese selbst.
Nicht zufällig waren Grund und Boden das Fundament des Feudalismus gewesen mit seiner durchnormierten Kette von Landausleihungen vom König hinab an hohe und von diesen an tiefere Lehensherren bis schliesslich hinunter zum schollengebundenen Bauern. Nicht zufällig basierten auch absolutistische Herrschaften auf ausgedehntem Landbesitz. Und nicht zufällig wurden revolutionäre Befreiungsvisionen erst dann wirklich konkret, als im 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts Bodenprivatisierungen stattfanden. Etwa in aufgeklärten Monarchien wie Preussen und Bayern, und ebenso in schweizerischen Kantonen wie etwa Basel.
Hier traten private Terraingesellschaften auf, die landwirtschaftlich genutzte Aussengebiete kauften und neue Wohnquartiere anlegten. Oder Unternehmer, die für ihre Angestellten moderne Wohnsiedlungen bauten. Oder neu gegründete Wohnbaugenossenschaften. Jetzt standen nicht mehr untertänige Bittsteller einer gnädigen Obrigkeit gegenüber, sondern es traten selbstbewusste Privatleute auf Augenhöhe auf, um einen Deal über den Kauf von Grund und Boden abzuschliessen. Und der Obrigkeit blieb aus wirtschaftlichen und politischen Gründen nichts anderes übrig, als in den Deal einzuwilligen.
Das Ancien Régime schlägt zurück
Damit tut sie sich noch heute schwer. Der Staat sieht es ungern, wenn Private Grundeigentum haben. Deshalb straft er sie ständig: mit Handänderungssteuern bei jeder Veräusserung, mit einer bisweilen exzessiven Grundstückgewinnsteuer, mit einer jährlichen Grundstücksteuer auch dann, wenn man einen Verlust macht, mit gesetzlichen Grundpfandrechten zur Absicherung staatlicher Abgaben. Bei anderen Vermögenswerten, etwa Geschäftsvermögen oder Aktien, langt der Staat nicht so unwirsch zu.
Am liebsten würde er den Boden wieder zurücknehmen und den Untertanen bloss auf Zeit ausleihen. Die Rechtsform dazu ist das sogenannte Baurecht, bei dem dann der Boden dem Staat gehört und der Private bloss die Baunutzung hat. Das gebaute Haus gehört hier zwar dem Privaten, er kann es auch verkaufen oder vererben. Doch spätestens nach 100 Jahren fällt es an den Staat heim. Und während dieser ganzen Zeit zahlt der Baurechtsnehmer einen Baurechtszins, der meist auch laufend an den Wert des Grundstücks angepasst wird. Das erinnert doch stark an den Lehenszins des Mittelalters.
Speziell in Basel hat dies eine gewisse Tradition. Sie geht zurück auf die erwähnten Wohngenossenschaften, die oft zu wenig Geld hatten, um der Stadt den Boden abzukaufen. Die Lösung war dann eben das Baurecht, das in der Folge eine gewisse Verbreitung fand. Und eben dies genügt nun der „Neuen Bodeninitiative“ nicht. Sie will, dass der Staat noch weitere Grundstücke hinzukaufe, um sie dann nur noch im Baurecht zu verleihen. Ein ziemlich anachronistisches Rückzugsgefecht des Feudalismus!
Vom Grundbesitz zum Territorium
Kommt es nun – hoffentlich – zur Ablehnung, so werden die staatsgläubigen Initianten wohl enttäuscht sein. Der Staat als solcher wird es aber verschmerzen. Denn längst hat er ein viel wirkungsvolleres Regime für seinen Boden entwickelt. Er hat ihn nämlich zu seinem „Territorium“ erklärt. Findige, vom Staat bezahlte Staatsrechtler – unter ihnen etwa Georg Jellinek, der auch kurz an der Universität Basel lehrte – haben im 19. Jahrhundert eine Theorie entwickelt, die dem neu aufkommenden Nationalstaat so etwas wie einen wissenschaftlichen Unterbau geben sollte, nämlich dass es für einen Staat nicht nur ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt brauche, sondern auch ein Staatsgebiet.
Das wird seither von all den vielen staatlichen Staatsrechtlern weitererzählt und mit grossem Ernst vertreten. Dabei ist diese Theorie ziemlich durchsichtig. Sie verschafft dem Staat die Möglichkeit, über „seinen“ Boden selbst dann zu herrschen, wenn er nicht (mehr) Eigentümer ist. Das Recht zu bestimmen, was auf seinem Land gilt, muss er sich nicht mehr erkaufen und damit verdienen; er hat es einfach so, quasi definitionsgemäss – Professor Jellinek sei Dank.
Vom Territorium zum Terror
Das birgt gefährliches Totalitarismuspotenzial: Territoriale Zuständigkeit des Staates genügt, Rechtmässigkeit ist Nebensache. Die Nachkommen des Juden Jellinek haben dies im territorialen Zuständigkeitsbereich des nationalsozialistischen Staats mit tödlicher Brutalität erfahren. Und nicht zufällig hatte damals der eigene Boden des deutschen Staats eine wichtige Rolle gespielt, zumindest ideologisch. „Blut und Boden“ war das Losungswort einer unheilvollen Verknüpfung von Volk, Macht und Territorium.
Als Gegenbeispiel wird oft das Judentum genannt, das zwar schon immer so etwas wie eine nationale Staatsidentität gehabt habe – aber ohne Staatsterritorium. Dass es mittlerweile den territorial definierten Staat Israel gibt, halten manche Juden deshalb weniger für die Erfüllung ihrer Staatlichkeit als für eine atypische Sonderentwicklung. Und allemal ist es kein Zufall, dass die Konflikte zwischen dem Staat Israel und der palästinensischen Bevölkerung derart eng mit Problemen des Staatsterritoriums verstrickt sind.
Jedenfalls gibt es gute Gründe, die im 19. Jahrhundert begonnene, vom Staat dann aber unterlaufene Bodenbefreiung möglichst konsequent weiterzuführen, gelegentlich der Staatsmacht ihr Territorium wegzunehmen und vor allem nun als nächstes – am Sonntag Nein zu stimmen.