Oasen austrocknen!
David Dürr - Basler Zeitung 12.04.2013
Die Wortwahl ist verräterisch. Sigmund Freud lässt grüssen. Das muss mit tiefen Schichten der Persönlichkeitsentwicklung, vielleicht mit prägenden Erlebnissen in frühester Kindheit zu tun haben, wenn Finanz- und Budgetminister allenthalben fordern, man müsse weltweit die sogenannten „Steuer-Oasen trockenlegen“, wie etwa unlängst Wolfgang Schäuble zusammen mit seinem amerikanischen Berufskollegen Jack Lew.
Eine Oase ist ein kleiner Ort des Glücks, der Erholung und des Friedens, umgeben von mächtigen Wüsten der Unglücks, der Strapazen und des Streits um das Wenige, was es hat. Eine Oase Trockenlegen heisst dieses Glück vernichten, heisst auch diesen letzten Rest noch zur Wüste zu machen. Genau das wollen jene Finanzminister und sagen es vor laufender Kamera.
Würden sie bei Sigmund Freud auf der Couch liegen, käme wahrscheinlich Folgendes zum Vorschein: Klein Wolfgang hatte einst im Sandkasten mit Hingebung und Geschick eine wunderschöne Burg gebaut. Mit etwas Wasser wurde der Sand besonders fest, sodass er elegante Türme hochziehen und feine Torbogen formen konnte. Ein veritabler Wassergraben umgab das Anwesen. Wolfgang war stolz und glücklich. Doch dann geschah es, das Schreckliche, das er in der Nacht nach jenem Tag mit aller Kraft in sein Unterbewusstsein verbannte: Der stärkste unter den Kindergartenkumpanen, ein grobschlächtiger tumber Tor, kam daher und machte alles kaputt, zertrampelte die Burg, liess das Wasser auslaufen, am Schluss war da gar nichts als die einheitlich wüste Fläche des grossen Sandkastens.
Und nicht nur das, bei seinem Gewaltakt verhöhnte der Grobian den kleinen Wolfgang vor der ganzen Kinderschar: «Das schöne Wasser in diesem Graben kannst du doch nicht einfach für dich behalten» (dabei hatte es Wolferl doch eigenhändig am Brunnen geholt!), «das können doch auch andere gut gebrauchen» (dabei nützte das versickerte Wasser am Schluss niemandem). Und am allerschlimmsten: Die anderen Kinder lachten und grölten mit, selbst die sogenannten Freunde von Wolfgang schauten feige zur Seite. Irgendwann – so muss es sich in den Seelentiefen von Wolfgang Schäuble damals eingenistet haben – werde er nicht mehr das erniedrigte Opfer sein, und sei es, dass er dann eben zum arroganten Täter werde.
Klein Jack hatte zweifellos ein ähnliches Erlebnis. Auch seine Burg wurde vom Stärksten kaputtgemacht. Allerdings war dieser nicht so plump und ungeschickt, hatte er sich doch selbst eine schöne Burg gebaut, die natürlich keiner anzugreifen wagte. Nur so konnte sich Jack später auf der Couch von Freud erklären, warum er als Finanzminister in seiner globalen Trockenlegungsstrategie die Steueroase Delaware schlicht vergessen hatte.
Und dann noch die Geschichte von Klein Jérôme Cahuzac, dem späteren Budgetminister von Frankreich: Auch bei ihm soll es im Sandkasten solch wüste Szenen gegeben haben. Allerdings war er nicht so intensiv betroffen wie Wolfgang und Jack. Als eher bequemes Kind hatte er beim Burgenbauen vor allem zugeschaut, war nicht selbst das erniedrigte Opfer, natürlich auch nicht der böse Täter. Jedenfalls war dies ein guter Nährboden dafür, als späterer Minister beides zu tun, einerseits Steueroasen trockenzulegen und anderseits Geld in solchen anzulegen. So spielt eben das Leben.