Lieber Herr Chodorkowski
David Dürr - Basler Zeitung 10.01.2014
Weil ich Ihre Adresse nicht kenne, Ihnen aber gern einen freundlichen Willkommensgruss zusenden möchte, benütze ich diese Kolumne und schreibe Ihnen meinen kurzen Brief halt offen. So können zwar alle BAZ-Leser mitlesen, doch muss uns das ja nicht stören.
Ich möchte Sie, lieber Herr Chodorkowski, ganz herzlich in der Schweiz willkommen heissen. Sie sind ein echter Gewinn für unser Land. Von mir aus dürfen Sie gern auch länger als bloss für drei Monate hier bleiben. Ihr Lebenslauf beeindruckt und überzeugt mich in jeder Hinsicht. Wäre ich nicht schon über 60, würde ich nicht ungern auf das umsatteln, was Sie in Ihren 50 Lebensjahren unternommen haben.
Ich meine natürlich nicht die letzten 10 Jahre, die Sie im sibirischen Arbeitslager verbracht haben. Das suche ich nicht wirklich. Aber ehrenvoll war es allemal, was Ihnen da passiert ist. Denn Sie haben es gewagt, diesem jämmerlichen Despoten bei Ihnen vor laufender Kamera zu sagen, auf welch gigantischer Korruptionsmaschinerie er thront. Da haben Sie grossen Mut gezeigt. Wahrscheinlich braucht es am meisten Mut, etwas zu sagen, von dem alle zwar genau wissen, dass es so ist, aber so tun, wie wenn es ganz anders wäre. Solch feiges Verschweigen scheint im Umfeld grosser Machtkonzentrationen nicht atypisch zu sein, sei es bei des Kaisers neuen Kleidern, sei es bei Putins demokratischer Fassade.
Die Rache haben Sie postwendend zu spüren bekommen. Der Vorwurf des Steuerbetrugs liess nicht lange auf sich warten. Der kommt immer, wenn einem solchen Tyrannen in seiner Unterwerfungsstrategie nichts anderes einfällt. Was ist denn das überhaupt, Steuerbetrug? Wer betrügt da eigentlich wen? Etwa der Steuerpflichtige den Tyrannen? Ich wüsste nicht weshalb. Ist es denn Betrug, sich gegen ein derart arrogantes Raubrittertum von oben zu wehren? Das sah der Kreml natürlich anders. Und trotzdem haben Sie es geschafft, Ihr Vermögen vor seinem Zugriff in Sicherheit zu bringen. Alle Achtung!
Grossartig finde ich auch, wie Sie es zu Ihrem Milliardenvermögen gebracht haben. Ich meine nicht die einzelnen Transaktionsschritte, die ich ja nicht näher kenne. Ich meine vor allem, wie Sie mit grosser Energie, unternehmerischem Engagement und raffinierter Professionalität dabei waren, als es um die Privatisierung der nachsowjetischen Staatswirtschaft ging. Bei dieser edelsten aller zivilgesellschaftlichen Aufgaben, bei der Privatisierung staatlicher Bereiche, haben Sie an vorderster Front mitgewirkt. Und dank Ihres Privatisierungsgeschicks wurden Sie ja dann neidvoll ein „Oligarch“ gescholten. Aus meiner Sicht ein Ehrentitel, zu dem ich Sie nur beglückwünschen kann. Denn wer, wenn nicht starke Oligarchen, vermag einem Despoten wie Putin auch nur halbwegs die Stirn zu bieten?
Nun gönnen Sie sich bei uns in der Schweiz Ihre verdiente Erholung! Hier gibt es all die unschönen Dinge nicht, gegen die Sie so lange gekämpft haben. Keine demokratische Fassade, keine Verfahren wegen angeblichen Steuerbetrugs, keine staatsnahen Wirtschaftsbetriebe, keinen Neid auf reiche Leute, keine zentrale Staatsmacht. Nichts dergleichen.